Montag, 19. März 2012

Karibu

"Jambo! Karibu!", sagt die Dame am Flughafenschalter grinsend und mit einer fast singenden Stimme zu mir. Ich schiebe ihr unter der Plastikwand, hinter der sie sitzt, meinen Pass, die fünfzig Dollar für das Visum und das mehr schlecht als recht ausgefüllte Einreiseformular zu. Sie schaut kaum darauf und klebt mir das Visum in den Pass. Dann darf ich einreisen. Nochmals sagt sie "Karibu!".
Ich, noch in Jeans und Pulli gerade einem extrem wackeligen Direktflug aus Frankfurt lebend entkommen, schleppe schwitzend meinen Trekkingrucksack und das kleine Handgepäck in die für einen internationalen Flughafen recht erbärmliche Ankunftshalle von MBA - Mombasa intl.
Vierundzwanzig Jahre alt bin ich, aus Köln, und heiße Yvonne, genannt Ivy im englischsprachigen Ausland, weil die Leute Yvonne selten korrekt aussprechen. Den größten Teil des letzten Jahres habe ich in Kanada gelebt und gearbeitet. Für mich ist "Karibu" ein Tier. Hier ist es das Universalwort, es heißt "willkommen", aber man kann es ständig verwenden. Für "bitteschön" zum Beispiel. Als Gruß. Als Glückwunsch. Das werde ich noch herausfinden. Aber noch bin ich etwas überfordert mit der Hitze und der Einfachheit, mit der ich in dieses Land gekommen bin. Angeblich sei die Einreise streng, sagte einer meiner besten Freunde namens Google. Man müsse ein Rück- oder Weiterreiseticket vorlegen. Mein Rückflug geht ab Johannesburg - das hatte aber nur den Condorfutzi in Frankfurt gestört, der offenbar entrüstet war, dass ich mit seinem Arbeitgeber nur in eine Richtung fliege. Ich hatte ihm einen Brief der kenianischen Botschaft gezeigt, der besagte, dass jedes mit gesundem Menschenverstand ausgestattete Individuum in der Lage sei, zu erschließen, dass man, um ein Flugzeug in Johannesburg zu besteigen, vorher die kenianische Grenze nach außen hin übertreten müsse. Nach einer erstaunlich langen Zeit hatte auch der Mensch von der Condor einen leichten Anfall gesunden Menschenverstands gehabt und mich durchgelassen. In Kenia dagegen keine Probleme, also mal wieder umsonst beunruhigt.
Ein Taxi holt mich ab. Das geht eigentlich gegen meine Prinzipien, ich fahre sonst nämlich immer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, egal, wo ich hinfahre, und da habe ich schon eine ganz schön lange Liste zusammen. Aber angesichts der Tatsache, dass dies mein erstes, wirkliches Mal in Afrika ist (Ägypten zählt zwar geographisch dazu, aber kulturell ist es eben der Nahe Osten und nicht Schwarzafrika), und ich die Nacht im Flugzeug erwartungsgemäß eher an den Sitz geklammert als schlafend verbracht habe, habe ich mich breitschlagen lassen, den teuren Service in Anspruch zu nehmen.
Mombasa ist eine Insel. Keine Ahnung, wo genau der Flughafen liegt, aber vermutlich auch darauf, denn um nach Ukunda, meinem Wohnort für die nächsten acht Wochen zu kommen, müssen wir auf die Fähre. Kürzlich erst wollten offenbar die Japaner statt der Fähre eine Brücke über den Hafeneingang bauen, aber die Kenianer wollten nicht die Brücke, sondern das Geld für die Brücke, und wenn Japaner eins nicht sind, dann blöd, und das Angebot wurde zurückgezogen. Deswegen gibt es weiterhin die Ferry, denn damit verdient man Geld. Dafür müssen die Leute zur Rush Hour eben anstehen - und die ist jetzt. Da ich in einem Auto sitze, komme ich aber auf das erstbeste Boot.
Die Fähre ist genauso voll mit Leuten wie vorher die Straßen, durch die wir gefahren sind. Die Sitzlehne ist zu weit nach vorn geneigt, klemmt, sodass ich sie nicht zurück bekomme, und ich sitze unbequem, genieße aber den Fahrtwind durchs offene Fenster und die ersten Eindrücke der neuen Umgebung. Ich liebe es, irgendwo anzukommen, in einer neuen Stadt, wo es noch alles zu entdecken und erkunden gibt. Die Vorfreude stellt sich ein. Vor Kurzem ist erst die Sonne aufgegangen, und schon wuseln Unmengen Leute über die staubigen Seitenstreifen der löchrigen Teerstraßen. Eckige Häuser bauen sie nun, keine runden, wie in den illustrierten Kinderbüchern über Afrika, die ich früher gesehen hatte. Die Dächer sind aus Wellblech, so gut wie alles einstöckig und recht klein. Bunte Schilder sind vorn angebracht, die die tollsten Sachen versprechen, Hühner rennen umher und Ziegen, Kinder in Schuluniformen werden huckepack zum Schulbus getragen, gut und europäisch gekleidete Leute in langen Hosen oder Röcken mit weißen Hemden und Blusen und vom Staub braunen Lederschuhen sind offenbar auf dem Weg zur Arbeit und begegnen dabei voll verschleierten Frauen in Schwarz genauso wie in bunte Tücher gehüllten Damen, die Wasserkanister aus Plastik oder Feuerholzbündel auf dem Kopf umhertragen. Man weiß kaum, wohin man zuerst schauen soll. Von meinem Fahrer hoffe ich, dass er auf die Straße schaut, die von Leuten ungeachtet des Verkehrs gekreuzt, von Kühen versperrt, die Verkehrsregeln nicht beachtenden Motorradfahrern mitbenutzt und von gefährlich nahekommenden, riskante Überholmanöver ausführenden Kleinbussen in voller Breite in Gegenrichtung genutzt wird. Ich befürchte, der Kofferaum, in dem mein Gepäck liegt, ist nicht abgeschlossen; meinen Rucksack mit Wertsachen und Papieren halte ich fest auf dem Schoß, als die ersten Leute durch das offene Fenster mein weißes Gesicht aus der Nähe betrachten kommen. Kinder winken mir zu und rufen schon wieder "Karibu!", aber ich schaue mich nicht mehr nach Tieren um. Das ist jetzt Afrika, darauf werde ich mich einstellen.
Ich kann gar nicht sagen, mit welchen Erwartungen ich hierher gekommen bin, dafür ging alles zu schnell. Man kennt die Bilder von Krisengebieten aus den alljährlich zur Weihnachtszeit in ihrer Häufigkeit nervenden Spendensendungen im Fernsehen - aber von Kenias Küste hatte ich, außer den schillernden Paradiesbildern auf gängigen Pauschalreiseportalen im Internet keinen Begriff. Man findet kaum Bilder, wenn man nach Ukunda sucht, und wie eine Straßenszene hier aussieht, erfahre ich erst heute. Es gibt - im Unterschied zum letzten richtig armen Entwicklungsland, das ich besuchte - Kambodscha - keine Refugien in Form von klimatisierten Einkaufszentren mit westlichen Reliquien wie McDonald's oder Starbucks mehr, sowas hat nur die Hauptstadt Nairobi (ok, in Kambodscha gab es so etwas wohl auch nur in der Hauptstadt). Auf den ersten Blick sieht man, dass es wohl doch das ärmste von mir jemals besuchte Land und es damit auch gerechtfertigt ist, dass ich zum Volunteering hierher gekommen bin. Dabei wollte ich erst eigentlich nach Mosambik, Malawi, Uganda, Äthiopien.... und bin dann hier gelandet, weil die Nähe zum Touristengebiet doch immerhin die Sicherheit gibt, dass man zur Not mal schnell in einem guten Krankenhaus oder mit dem Flieger zu Hause ist. Soviel, um die armen Eltern zu beruhigen. Aber nur, weil Touristen herkommen, geht es der Gegend auch nicht besser. Dazu aber später mehr.

Die Fahrt dauert ungefähr eine Stunde, die Landschaft ändert sich nicht mehr gewaltig. Nach der Fähre hören die mehrstöckigen Gebäude, die im Stadtzentrum Mombasas stehen, auf, und wir fahren durch Likoni, eine miese Gegend am andern Ufer der Fähre, wo mein Fahrer das Fenster schließt. An der Straße sind kleine Marktstände zu sehen, einer neben dem anderen, immer mit der gleichen Ware: Von Fliegen besetzte Tomaten, Bananen, Mangos und Zwiebeln, manchmal Kohl, manchmal Passionsfrüchte, und alles sieht so aus, wie das, was übrig bleibt, wenn die der EU-Norm entsprechenden Früchte längst exportiert wurden. Die Stände ziehen sich bis nach Ukunda.
Ukunda besteht im weitesten Sinne aus einer Hauptstraße, und das ist dieselbe Straße, die etwa zwei bis drei Kilometer von der Küste zurückgesetzt diese entlang von Mombasa nach Tansania führt. Sie ist gut ausgebaut und sauber geteert, und ich denke, dass dies den Touristen zuliebe geschehen ist, die in ihren Hotelshuttles mehrmals täglich hier entlang gekarrt werden. Später erfahre ich, dass es jedoch hauptsächlich für den Transport von Bodenschätzen ausgebaut wurde, die in der Nähe entdeckt wurden und dort abgebaut werden. Auf dem Weg ist die Landschaft mal bebaut, mal weniger, überall stehen grüne Palmen, doch der Boden ist staubig, denn es ist Trockenzeit und seit Monaten gab es keinen Tropfen Regen. Trotzdem ist die Landschaft bunt - nicht nur wegen der farbenfrohen Müllberge zu beiden Seiten der Straße, sondern auch wegen blühender Büsche in leuchtenden Farben und den allgegenwärtigen, großen grünen Mangobäumen, dem blauen Himmel, den bunten Bussen und den so schön gekleideten Einwohnern.
Ich schaue begeistert aus dem Fenster, will alle Eindrücke aufsaugen und eine erste Einschätzung treffen, ob ich mich hier wohlfühlen kann (bei Städten weiß ich das immer innerhalb von 24 Stunden, aber dies hier ist ein Dorf). Plötzlich biegt der Taxifahrer in einen Innenhof - durch einen schmalen Durchgang gelangt man in noch einen weiteren, kleineren dahinter, und dort stehen vier baugleiche Bungalows sich paarweise gegenüber. "Karibu", sagt der Fahrer. Ich bin dann wohl jetzt hier zu Hause.

meine Wohnung von außen (hübsch!)

meine Wohnung (Küche) von innen
Ich treffe die Leiterin meines Projekts an einer weiterführenden Mädchenschule, die jetzt meine neue Nachbarin ist und mich schon erwartet. Sie hat mir eine kenianische SIM-Karte, die ersten paar Schillinge (einer davon entspricht etwa einem Eurocent, da fällt das Umrechnen leicht) und auch etwas zu essen besorgt: Ein irrsinnig triefendes, toastscheibenförmiges Fettgebäck ohne Zucker, von dem sie selbst schwärmt (ist es unfreundlich zu sagen, dass man das sieht?), ich eher weniger. Ich fühle mich gut aufgehoben. Jetzt würde ich gern duschen und mich endlich umziehen, und vor allem einen großen Schluck Wasser trinken, aber dazu kommt es nicht. Die Dame ist so voller Tatendrang, dass ich erstmal einen langen Vortrag bekomme über meine zukünftigen Aufgaben, und vor allem, was ich lieber nicht tue, mich mit einem Lehrer einlassen zum Beispiel. Ich bin sehr irritiert, weil ich das a) nicht vorhabe und b) das gleich am ersten  Tag ohne Anlass diskutiert werden muss. Ich will immer noch Wasser. Während sie redet, schalte ich ab, und begutachte meine Behausung. Die Wohnung soll für kenianische Standards gut sein. Groß ist sie immerhin. Aber gut? Die Ausstattung erinnert mich weitgehend an eine alte Garage. Alles aus grauem Beton, der irgendwann mal nass gewesen sein muss und jetzt bröckelt. Keine Tapete, keine Fliesen, kein PVC, kein Teppich. Alles grau und gammelig. Darin ein altes Sofa, wie vom Sperrmüll oder eben wie in der Garage bis zum nächsten Sperrmüll, zwei einfache Betten, aber mit guter Matratze, ein Kühlschrank (Halleluja!), eine "Dusche" (Betonraum, tatsächlich mit Duschkopf und, wie mir versichert wird, meistens auch Wasser, kalt natürlich, aber das macht nichts), ein Klo, auch mit fließend (aber langsam fließend) Wasser, weitgehend verrostet, ein Waschecken, ebenfalls verrostet (und das Wasser entsprechend orange), und eine kleine Küche (Herd, der angeblich explodiert, wenn man ihn anstellt, und ein schief an der Wand befestigtes Spülecken, auch rostig). Sicher kann man hier leben, aber im ersten Moment bin ich etwas unerfreut über den verhältnismäßig hohen Preis, den mich das ganze dann doch kostet. Mich stört nicht der allgemeine Standard der Wohnsituation, aber man hätte die Wohnung auch etwas liebevoller ausstatten, etwa streichen, können. Im Bad-Vorzimmer geht das Licht nicht, ebenso in der Küche, und die Vorhänge der verfliegengitterten Fenster sind grau, schief und auf links angebracht. Aber ich sage nichts, denn ich weiß ja, dass ich vermutlich immer noch besser lebe als alle die Mädchen und Lehrer, mit denen ich ab morgen arbeiten werde.
Forty Thieves Bar mit Ausblick

Irgendwann ist auch das Eingangsgespräch zu Ende, und ich kann duschen und trinken. Dann wird mir vorgeschlagen, den restlichen Tag am Strand zu verbringen; ein Angebot, das ich gern annehme. Ich lasse mich mitnehmen in die Forty Thieves Beach Bar und verbringe drei angenehme Stunden mit einer kühlen Cola im Schatten am Indischen Ozean, akklimatisiere mich und kann endlich entspannen vom Flug. Es waren zwar nur acht Stunden, aber die Anreise davor zum Flughafen mit dem Bummelzug, die lästigen, traurigen Abschiedsszenen, die letzte Nacht zu Hause, die vor Anspannung auch nicht besonders lang war... all das kommt jetzt allmählich hoch, und ich fühle mich erschöpft. Mit einem Auge beobachte ich belustigt ein Schauspiel, das sich auf und neben dem nächstliegenden Baum abspielt: Drei Afrikaner vs. ein Affe, der offenbar ein ungern geseher Gast ist, aber ganz gechillt oben auf dem Baum sitzt und völlig unbeeindruckt beobachtet, wie die Männer nach ihm springen, greifen und mit leeren Flaschen nach ihm werfen. Der Affe gewinnt.

Auf dem Rückweg fahren wir noch zum Supermarkt, und ich kaufe mir mehrere Flaschen Wasser und eine Instant-Nudelsuppe für heute Abend.
Damit geht der erste Tag zu Ende. Ich löffle meine Suppe, während auf meiner Veranda meine Projektleiterin eine Nageldesignerin empfängt und sich für einen Euro die Hände verschönern lässt. Dann baue ich das Schlafzimmer um, sodass ich am Fenster schlafen kann - binde das Fliegennetz ans Fenster, schalte den Deckenventilator ein, und beschließe trotzdem, in Unterwäsche zu schlafen. Das Kissen ist hart und unbequem, und ich verbanne es aus dem Bett. Ich telefoniere kurz mit zu Hause, dann falle ich um. Ankunft in Kenia geglückt.

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